Kapitel 1

 

Der Kodex der Cheia lehrt Gehorsamkeit

 

Unerbittlich drückte ihn die Hand in seinem Nacken vor dem Altar mit der gesichtslosen Statuette des Gesegneten auf die Knie. Bereits jetzt bohrten sich die am Boden liegenden Erbsen schmerzhaft durch die dünne Haut in seine Knochen. Die gesichtlose Statuette des Gesegneten beobachtete ihn ausdruckslos vom Altar her.

„Warum bist du hier?“, fragte der Priester mit den kurzen blonden Haaren. Seine Stimme klang schneidend.

„Ich war ungehorsam, Vater.“

„Du hattest die Anordnung, diesen Mann zu begleiten. Was soll ich von deiner Weigerung halten? Soll ich dich dorthin schicken, woher du kamst? Weißt du, was mit Jungen wie dir auf der Straße geschieht?“

Er schwieg, den Kopf furchtsam gesenkt.

„Die Priesterschaft führt diese Schule seit Generationen aus reiner Nächstenliebe. Wir haben dir ein Dach über den Kopf gegeben, dich gekleidet und lassen dir eine hervorragende Ausbildung angedeihen. Ein derartiger Undank wie von einem solchen Gossenbalg wie dir ist mir allerdings noch nicht untergekommen. Erkläre mir dein Fehlverhalten!“

„Vater, ich … ich wusste nicht, wohin mich dieser Mann bringen wollte. Ein Anwärter verlässt die Schule doch nur, um als Cheia zu seinem Say’imin zu gehen. Ich hatte Angst, dass ich vielleicht wie einige Mitschüler nicht wieder zurückkehre.“

„Angst oder Unwissenheit hält einen Cheia nicht von einem Befehl ab.“

„Ja, Vater. Es tut mir leid.“

„Dir kann ich versprechen, dass du immer zurückkehren wirst. Du bist für unsere Schule … sehr wertvoll.“

„Danke, Vater.“

„Allerdings werden nun deine Mitschüler wegen dir hungern müssen. Dir ist bestimmt klar, dass es für uns nicht leicht ist, so viele hungrige Mäuler zu stopfen. Da müsst auch ihr etwas dazu beitragen. Du hättest für Brot sorgen können, vielleicht sogar für ein bisschen Fleisch, wenn du mit unserem Besucher gegangen wärst. Aber da du nicht gehorcht hast, werden ihre Teller leer bleiben.“

Er unterdrückte ein jämmerliches Aufschluchzen. Wenn die anderen Jungen das erfuhren, würde er auf der Krankenstation enden. Als ob das Knien auf den Erbsen nicht schon Strafe genug war.

„Die nächsten drei Stunden wirst du im Angesicht des Gesegneten darüber nachdenken, ob deinem Sinn für Gehorsamkeit auf die Sprünge geholfen werden kann.“

 

Krachend flog die Tür der Spelunke auf. Wachsam ruckte Crids Kopf in die Höhe. Erst ein paar Herzschläge später entspannten sich seine kampfbereiten Muskeln, da es sich bloß um eine Gruppe von fünf jungen, sichtlich angetrunkenen Adligen handelte, die in den stickigen Schankraum stürmten. Crid musste über seine Reaktion lächeln, da sie ihm deutlich zeigte, wie nervös er tatsächlich war. Der Grund für seine Unruhe war sein neues Leben, das am nächsten Tag beginnen würde und auf das ihn die Priesterschaft des Gesegneten vorbereitet hatte, seit er ein Kleinkind war.

Grölend stolperten und schwankten die Adligen zwischen den Tischen entlang, strauchelten hier über den Fuß eines Nachtwächters, rempelten dort mehrere Handwerksleute an und stießen beinahe mit einem Taschenspieler zusammen. Endlich erreichten sie ihr anvisiertes Ziel – den Tresen – und schlugen lautstark mit den Fäusten darauf.

„Wein!“, riefen sie. „Bring uns Wein.“

Crid, der an einem einsamen Tisch in einer Ecke saß, beobachtete, wie der Wirt eilig mehrere Krüge mit seinem besten Roten füllte. Bestimmt verirrten sich nicht jeden Tag solch zahlungskräftige Kunden in seine Kaschemme. Wie die Schmeißfliegen umschwirrten schon die Huren die edlen Herren, von den sicher locker sitzenden Münzen der Adligen angelockt. Die ersten derben Scherze flogen durch den Raum, begleitet von ausgelassenem Gelächter. Mittelpunkt dieser fröhlichen Runde war ein Bursche, dessen zwanzigstes Wiegenfest die Adligen feierten, wie Crid den frivolen Trinksprüchen entnahm. Sein dunkelbraunes Haar hatte er mit einem Seidenband im Nacken gebändigt und im Gegensatz zu seinen Begleitern wirkte seine Kleidung beinahe schlicht. Doch der Stoff der grünen Tunika war von ausgezeichneter Qualität. An einer silbernen Kette trug er einen einfachen Anhänger in der Form eines Sterns. Crids Brauen zogen sich zusammen, als er das Schmuckstück erkannte. Das konnte unmöglich wahr sein! Dieser ausgelassen feiernde Bursche war der Sohn des Herrschers von Ta’al’baneh, ein kleines Herrschaftsgebiet zwischen mehreren hohen Gebirgszügen. Ob der herrschaftliche Papa wusste, wo sich sein Sprössling volllaufen ließ?

Auch der Wirt erkannte das im Laternenlicht glänzende Rangabzeichen und verbeugte sich tief.

„Darf ich dem ehrenwerten Say’imin eine Mahlzeit servieren?“, erkundigte er sich beflissen. Der Blick des vornehmen Gastes glitt über die Anwesenden und blieb ausgerechnet an Crid hängen, als er an seinem sauren Bier nippte.

„Frisches Fleisch wäre nicht schlecht“, antwortete die herrschaftliche Prominenz anzüglich und nickte in Crids Richtung. Beinahe hätte er sich verschluckt. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass die feiernde Gruppe auf ihn aufmerksam wurde. Seine spitzen Ohren und die katzenartigen Augen kennzeichneten ihn überdeutlich als Elfen. Die waren im Herrschaftsgebiet Ta’al’baneh zwar nicht unbekannt, aber man traf nicht gerade jeden Tag einen Angehörigen seiner Rasse. Bereits als Kind hatte er die Erfahrung gemacht, dass er auffiel und er hatte gelernt, neugierige Blicke zu ignorieren. Die Bemerkung des jungen angetrunkenen Mannes konnte er jedoch nicht übergehen.

In Erwartung von Ärger stellte er seinen Humpen auf den Tisch zurück und musterte die Adligen wachsam.

„Ich bedaure, Say’imin, der Herr ist ein Gast und keiner von meinen Huren“, antwortete der Wirt.

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

Es fiel Crid schwer, diese Beleidigung auf sich sitzen zu lassen, obwohl er sich empfindlich in seinem Stolz getroffen fühlte. Den Say’imin dafür auf die Bretter zu schicken, würde nicht gerade von einem gesunden Verstand zeugen. Die Adligen lachten und stießen ihren zukünftigen Herrscher aufmunternd an.

„Schnapp ihn dir, Draw“, forderten sie ihn auf. „Einen Ringkampf auf den Laken wird er dir an deinem Wiegenfest gewiss nicht abschlagen. Bestimmt hat er Lust mitzufeiern.“

Na bitte, er hatte es geahnt. Es war immer das gleiche. Trotz seines warnenden Stirnrunzeln trat der Say‘imin auf ihn zu. Fordernd streckte er die Hand aus.

„Komm!“ Das stellte eindeutig einen Befehl und keine Bitte dar. Crid rührte sich nicht, sah dem Gleichaltrigen lediglich abweisend ins Gesicht. Dessen Freunde lehnten inzwischen mit den Rücken am Tresen und verfolgten das Schauspiel, das ihnen der Say’imin auf etwas wackligen Beinen bot.

„Er will umworben werden“, riefen sie. „Pflück ihm ein paar Blümchen, Draw!“

Belustigt drehte der sich zu seinem Publikum um.

„Meint ihr?“ Er wandte sich wieder Crid zu. „Sag mir deinen Namen, Elf.“

Der Kommandoton ärgerte ihn. Zwischen knirschenden Zähnen presste er seinen Namen hervor:

„Crid.“

„Crid?“ Mit einer schwungvollen Geste drehte sich Draw zu seinen Freunden um.

„Sein Name ist Crid, habt ihr’s gehört? Ich werde ihn mir merken müssen, damit ich weiß, an wessen Mund ich gleich stöhnen werde.“

Mit Selbstbewusstsein schien der Say’imin mehr als ausreichend gesegnet worden zu sein. Erneut streckte er Crid auffordernd die Hand entgegen.

„Ich habe einen Blick für Schönheit. Du brauchst dich daher nicht bemühen, deine Qualitäten nach und nach ins Licht zu rücken. Mir steht vielmehr der Sinn danach, gleich zur Sache zu kommen.“

Crid biss die Zähne zusammen, um eine wütende Entgegnung zu vermeiden. Wie kam der aufgeblasene Flegel dazu, ihn wie eine Hure zu behandeln? Glaubte er vielleicht, dass ihm dieses Recht zustand, weil er in einem Palast geboren wurde?

„Er sieht nicht gerade willig aus.“ Die Adligen bogen sich vor Lachen, während Crid um Selbstbeherrschung rang. Draws Finger berührten seine Wange, strichen an ihr entlang und fuhren gleich darauf sanft über seine zusammengepressten Lippen.

„Es wird garantiert eine vergnügliche Erfahrung mit einem Elfen zu vögeln, da alle Welt behauptet, ihr würdet in der Liebe sehr leidenschaftlich sein.“

Crid reichte es.

„Nehmt Eure Finger aus meinem Gesicht.“ Er sprang auf und wischte die Hand des Say’imin grob beiseite. Am liebsten hätte er den unverschämten Kerl erwürgt.

„Und wie leidenschaftlich er ist, Draw!“ Die Adligen johlten vor Vergnügen.

„Nenn mir deinen Preis“, forderte Draw im nächsten Moment. Kochende Wut stieg in Crid auf. Es war geschickter das Feld zu räumen, ehe er etwas tat, das er später bereuen würde. Die übrigen Gäste der Kaschemme schauten ihnen bloß amüsiert zu. Niemand würde eingreifen. Ohne ein weiteres Wort riss er seinen Umhang vom Haken und drängte sich an dem Say’imin vorbei. Eine Sekunde später wurde er unsanft an den Haaren zurückgezogen und gleich darauf mit dem Rücken gegen die Wand gepresst. Draw stand unmittelbar vor ihm und verhinderte mit seinem Körper ein Entkommen. Goldene Sprenkel tanzten übermütig in seinen braunen Augen, als er Crids Kinn umfasste.

„Bist du schüchtern? Oder versuchst du deine Tugend zu verteidigen? Ist es das?“ Er lachte leise. „Bist du sicher, dass du dich nicht mit mir amüsieren magst? Dir würde etwas Unvergessliches entgehen.“

„Ihr seid ja ziemlich von Euch selbst überzeugt“, zischte Crid.

„Natürlich. Und dich werde ich auch noch überzeugen.“

Weinfeuchte Lippen legten sich auf Crids und küssten ihn, während sich eine Hand vorwitzig zwischen seine Beine tastete. Das ging eindeutig zu weit. Zum Glück hatte die Wut Crids Verstand nicht ganz außer Gefecht gesetzt, denn um ein Haar hätte er seinen Dolch gezückt und sich in diesem Fall spätestens morgen auf dem Hinrichtungsplatz vorgefunden. Mit einem heftigen Stoß befreite er sich aus der Umklammerung des Say’imin und schlüpfte gewandt zwischen dessen zupackenden Händen hindurch. Einer der Adligen bekam ihn am Arm zu fassen und lag in der nächsten Sekunde keuchend auf den schmutzigen Dielen. Crid wartete nicht erst ab, bis die anderen auf seine Flucht reagierten, sondern huschte in die Nacht hinaus. Sein letzter Tag ohne einen Herrn bekam einen bitteren Geschmack.